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Solo in Le Mans

Den 10. Platz beim 24-Stunden Rennen in Le Mans zu belegen, das klingt nach einem veritablen Erfolg. Und das quasi aus dem Nichts. Zwar wird der erfahrene FIT Leser kurz innehalten und sich fragen, seit wann die Freiburger Turnerschaft ein eigenes Tourenwagenteam unterhalten kann. Andererseits, so lässt er sich von seiner inneren Stimme überzeugen, ist der FT schon anderes Großes gelungen. Wieso also nicht auch das. April ist ja lange vorbei.
Sein anfängliches Zögern wäre allerdings durchaus gerechtfertigt gewesen. Denn diese Platzierung wurde nicht mit einem 1000 PS starken Boliden erzielt, sondern aus eigener Kraft mit Inlineskates an den Füßen. Während sich beim Tourenwagenrennen zwei Fahrer die 24 Stunden teilen und nur einer hoch konzentriert Runden drehen muss, indes der andere auf der faulen Haut liegt, gab es für den Inlineskater kein 'Backup', keinen Ersatzmann, kein Duopartner, noch nicht einmal einen Betreuer.
Michael Seitz von der Speedskating Abteilung der Freiburger Turnerschaft ist am 27. und 28 Juni 2015 im Alleingang 465 Kilometer in 22 Stunden geskatet. Das entspricht 111 Runden auf dem 4,2 Kilometer langen und gnadenlos schattenfreien Bugatti Circuit von Le Mans in West-Frankreich. Nachdem im letzten Drittel des Rennens die überraschend in Reichweite gerückte Platzierung auf dem Podest dann doch immer unwahrscheinlicher wurde, erlosch sonntags gegen 14 Uhr die Motivation, sich weiter zu quälen, bei dem Freiburger vollends. Die Hemmungen, sich in die schattige Box zu retten und die geschundenen Füße von den kompromisslos harten Schuhen zu befreien, waren schnell verflogen. Die letzten zwei Stunden des Rennens verbrachte er in der Box und beobachtete auf dem Monitor, wie sich seine Platzierung Platz um Platz verschlechterte, ohne dass seine Laune arg darunter litt. Immerhin hatte er sein selbst gestecktes sehr vages Ziel, wenigstens die 100 Runden zu knacken, schon lange erreicht. Er war kurzfristig für einen Freund eingesprungen, der sich ein Jahr zuvor von Kollegen in überschwänglicher Stimmung dazu verleiten ließ, sich zu diesem Martyrium anzumelden. Drei Wochen vor dem Start musste der Freund sich eingestehen, eine Fehlentscheidung getroffen zu haben. Ohne Kilometer in den Beinen wollte er den weiten Weg an die Sarthe nicht antreten.
Auch der Ersatzmann Seitz reiste ohne allzu hohe Erwartungen an. 2009 hatte er seinen ersten Versuch, als Solist in Le Mans Kilometer zu fressen relativ früh nach 85 Runden mit Krämpfen abgebrochen. Auch sein Trainingsstand im Jahr 2015 gab keinen Anlass, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. Lediglich seine langjährige Erfahrung mit den ureigenen Gegebenheiten des legendären Rundkurses aus diversen Teilnahmen in 5er- und 10er-Teams und langen Strecken im Allgemeinen, ließen ihn mit gesundem Optimismus an den Start gehen.
Das Rennen hat eine ganz besondere Dramaturgie. Gestartet wird an einem Samstag um Punkt 16 Uhr. Dem klassischen Le Mans Autorennen nachempfunden, rennen annähernd 400 Skater mit dem Startschuss barfuss quer über die Piste zu ihren Schuhen und versuchen so schnell es eben geht in die engen Sportgeräte zu schlüpfen, um dann möglichst weit vorne in die rollende Meute zu springen und Fahrt auf zu nehmen. Die Startposition wird zwei Stunden zuvor durch einen 300 Meter Sprint ausgefahren.
Die Soloskater, immerhin in diesem Jahr 118 an der Zahl, schenken sich dieses Nerven aufreibende Prozedere in der Regel und starten freiwillig als letzte. Michael Seitz wusste nichts von dieser Möglichkeit, die das Reglement offenbar bot und legte einen zurückhaltenden Sprint auf das Öl verschmierte Parkett. Auch das Fehlen der großen Anzeigetafel in Start-/Zielnähe fiel ihm erst auf, als das Rennen schon in vollem Gange war. Die große Anzeigetafel war in den Vorjahren für die Solisten, die einzige Möglichkeit, ihre Platzierung zu registrieren, sofern sie zufällig in dem Moment dort vorbei fuhren, in dem ihr Name eingeblendet wurde und ihr Blick nicht bereits von Schweiß, Sand und Erschöpfung so getrübt war, dass sie ohnehin nichts erkennen konnten. In diesem Jahr wurde die Rangliste lediglich auf den Monitoren in den Boxen unablässig durch gescrollt.
In den ersten Stunden des Rennens herrscht bei den Teams hektisches Treiben. Insbesondere bei den ambitionierten wird darauf geachtet, dass die Wechsel sich von Runde zu Runde einspielen, nach jeder Runde ein frischer Wechselparter bereit steht, niemand es vergisst seinen Zeitnahmechip an den Nachfolger zu übergeben, in den Ruhezeiten auch wirklich geruht wird, alle die Konzentration hoch halten und jeder auf seiner Runde schnell unterwegs ist, ohne sich zu verausgaben. Die Nacht taucht das Areal schnell in angenehme Kühle. Das ist die Zeit, in der der Asphalt den Skatern wohl gesonnen ist, fest, schnell, berechenbar. Die Anspannung lässt keine Müdigkeit aufkommen.
Stand der Dunlop-Bogen bei der Carrera Bahn im heimischen Wohnzimmer meistens ebenerdig auf dem Teppich, ragt er in der Realität 30 Höhenmeter aus dem Gelände heraus. Immer wieder aufs Neue müssen die 30 Höhenmeter erklommen werden. Um es noch anspruchsvoller zu machen, zwingt eine Schikane 100 Meter vor dem Kulminationspunkt die Skater zu einem extrem kurzen aber kraftvollen Schrittmaß. Dieser Punkt hat das Potential, den letzten Willen zu brechen. Der Laktatspiegel in den Beinen hat hier sein Maximum erreicht. Wenn am Sonntag Mittag der Asphalt glüht, sieht man hier die Entkräfteten im Kiesbett stehen und Jammern.
In diesem Jahr hatte sich ein namhafter Inlineskate Ausrüster auf die Fahnen geschrieben, mit seinem Team den Kilometerrekord zu brechen. Es wurden die weltbesten Speedskater verpflichtet und die ließen sich nicht lumpen. Das Powerslide Racing Team der Herren sammelte in den 24 Stunden 916 Kilometer und pulverisierte damit den alten Rekord. Nicht selten schossen die Profis den ökonomisch dahin rollenden Solisten quasi durch die Beine. Schön anzuschauen, wenn auch nicht ganz ungefährlich für die derart riskant Überholten. Die Dramaturgie des Rennens will es so, dass der Sonntag unerbittlich heiß wird. Wer noch gut durch die Nacht gekommen ist, sieht sich schnell einem aussichtslosen Kampf gegen die Hitze ausgesetzt. Die Geschwindigkeiten sinken rapide und viele der Hobbysportler sehen ein, dass sie für diese Verhältnisse nicht geschaffen sind. Ein Glück, dass es auf dem ganzen Kurs nur wenige Bitumenfugen gibt, die sich in der Sonne zu tückischen Schlingpflanzen verwandeln könnten. Die Teams stellen sich in der Regel taktisch auf diese Verhältnisse ein, indem sie hitzebeständige Teammitglieder für die letzten Stunden schonen. Das können die Solisten nicht.
Michael Seitz fuhr vom Start aus sieben Stunden ununterbrochen durch und machte dann eine 20-minütige Pause. In der Pause mussten in aller Eile die Proviantvorräte aufgefüllt und eine zerrissene Startnummer notdürftig instand gesetzt werden. Kein Gedanke an Ruhe. Es folgte das gleiche noch einmal: sieben Stunden skaten, 20 Minuten Pause. Nach 15 Stunden Fahrt war ihm sein Platzierung immer noch unbekannt. Erst morgens um 8 Uhr drangen vereinzelte Rufe auf der Start-/Zielgeraden zu ihm, die ihm signalisierten, dass er wohl auf Platz vier liegen müsse. Er hatte zwar während des Rennverlaufs immer ein gutes Gefühl. Diese Platzierung übertraf dann aber seine Erwartungen um Längen. Unerwartet war die Perspektive da, zu den sechs Einzelstartern zu gehören, die auf das hoch oben über der Rennstrecke stehende Podest gerufen werden. Mit dem Pokal in der Hand auf Le Mans herunter blicken zu können, das war ein Gedanke, den man gut und gerne 10 Runden lang im Kopf von allen Seiten betrachten konnte.
In der Nacht hatte es sich ergeben, dass er sich in den Zug der Top Solisten einreihen durfte und stundenlang deren gleich bleibend hohes Tempo mit fuhr. Von 'dürfen' muss hier bewusst gesprochen werden, denn die überwiegend französischen Ausdauerspezialisten ließen nicht jeden in ihre Reihen, schon gar keinen Deutschen. Wenn, dann muss er sich spürbar am Vortrieb der Gruppe beteiligen. Seitz hatte sich offenbar diesbezüglich nichts zu Schulden kommen lassen. Gelegentlich war seine Führungsarbeit sogar etwas zu schnell. Dann schallte ein energisches "arrête!" von hinten. Je länger das Rennen dauerte, desto öfter konnte er jedoch auch erleben, wie die Sieganwärter ihre französischen Teamkollegen als 'Hasen' einsetzen und im Windschatten über den Kurs eskortiert wurden, Runde um Runde immer ein neuer Hase. Sie bekamen Bekleidung, Getränke und neue SIM-Karten für den IPOD gereicht und waren immer im Bilde bezüglich ihrer Platzierung und den Abständen zur Konkurrenz. Ein erheblicher Vorteil gegenüber den Solisten, die die Logistik auch in Eigenregie bewältigen mussten. Die Leistung des Siegers der Einzelstarter schmälert dies aber nur geringfügig. Er absolvierte 590 Kilometer und fuhr pausenlos, 24 Stunden lang. Chapeau!
Wäre da die monatelang anhaltende partielle Taubheit in den unteren Extremitäten nicht, die sich durch die Nervenschädigung infolge des stundenlangen Durchblutungsmangels in den Füßen einstellt, hätte sich Seitz den Startplatz für 2016 bereits gesichert. So aber muss er abwarten, wie sein Körper sich regeneriert. Kein Problem, Ausdauersportler haben Geduld.