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Pushing down on me, pushing down on you ...

Dem Druck im Hochleistungssport gewachsen zu sein, hat mit Persönlichkeitsmerkmalen und erlernten Strategien zu tun. Vor allem aber geht es um den Mut, sich seinen Niederlagen zu stellen.

Jede anerkannte Sportart hat eine Entsprechung in der kindlichen Welt. Irgendwann näheren sich Kinder den Vorformen und Vereinfachungen der Tätigkeiten, die man irgendwann als Hochleistungssport bezeichnet. Im Fußball ist das beispielsweise „Leeres Tor“, im Basketball „Magic“, in der Leichtathletik „Teebeutelweitwurf“ und im Turnen der Spielplatzbesuch.

Emotionale Herausforderungen für Kinder
Schon als Kind kann man spüren, wie sich in Situationen des Miteinandermessens körperliche und seelische Befindlichkeiten sowie die Fähigkeit zur Fokussierung verändern. Kinder erwischen mal einen guten, mal einen schlechten Tag oder können Spielkameraden mehr oder weniger gut leiden oder sind manchmal stark und mutig, wenn Mama und Papa dabei sind – oder auch nicht. Im Sandkasten entstehen sozusagen schon kleine „Alles-oder-Nichts“-Momente, mit denen Kinder  klarkommen, ohne daran zu zerbrechen oder auch nur schlecht zu schlafen. 

Der Druck im Hochleistungssport
Auch wenn es banal erscheint: viele erwachsene Sportler:innen können sich rein intuitiv nicht erklären, warum sie im betont spielerischen Kontext einmal tiefenentspannt mit Erwartungen umgehen konnten, an denen sie in der Wettkampfsituation zu knabbern haben; warum sie immer noch relaxed performen können, wenn man sie – befreit von Faktoren wie Zuschauern, Scouts, Wettkampfbedeutung, Trainern, Medien – einfach rennen,  springen, spielen lässt. Und warum genau dieselben Tätigkeiten zum Krampf werden können, wenn gerade obengenannte Faktoren auf Aktive einwirken, sie im Wortsinn „bedrücken“. „Choking under pressure“ ist ein Fachbegriff, der sich mittlerweile aus gutem Grund seinen Weg in die Alltagssprache bahnt. Der Mechanismus ist in wenigen Schritten erklärt. Grundsätzlich geht man davon aus, dass Sportler:innen (und andere Menschen) ihre Fähigkeiten dann am besten abrufen, wenn sie diese unter Bedingungen abrufen können, die sie gewohnt sind. Die allermeisten Athlet:innen sind es im Training, vor Menschenmassen aufzutreten, die stark visuell und auditiv großen Einfluss auf die Atmosphäre einer Sportstätte nehmen können oder um Titel und Verträge zu spielen. Das Verhältnis von Trainingssituation zu Wettkampfsituation liegt im Hochleistungssport bei ungefähr 6:1. Die Drucksituation stellt also immer die Ausnahme dar, verändert die Wahrnehmung und ist im Training auch nur bedingt simulierbar. Das Wissen um die Bedeutung eines Wettkampfes, die Hoffnungen von Fans, die anstehenden Vertragsverhandlungen, oder auch der Spielmoment verleihen jeder Aktion einen Bedeutungsüberschuss. Der Bewegungsablauf des Aufschlags im Volleyball wird zu Beginn des ersten Satzes anders wahrgenommen als am Ende eines engen Spiels, obwohl der Ablauf standardisiert ist – es ändert sich objektiv  nichts. 

Mentale Hürden überwinden
Menschen neigen in diesen Stresssituationen, die häufig mit Ängstlichkeit und dem Gefühl eines wachsenden Kontrollverlust einhergehen, dazu, nachzudenken, zu reflektieren und geraten dabei häufig in eine negative Gedankenspirale (Bin ich wirklich gut genug? Was passiert, wenn ich versage?). Sie fokussieren nicht mehr nach dem gewohnten Muster, das gut gelernten automatisierten Abläufen freie Bahn lässt. Es schleichen sich ablenkende Gedanken und Wahrnehmungsinhalte ein, die nichts oder auch zu viel mit der momentanen Bewegungsaufgabe zu tun haben. Es ist als würde man ein Bier bestellen und während des Zapfens gäbe der Wirt immer wieder Wasser hinzu – das Getränk bliebe erkennbar aber die Qualität wäre unbefriedigend. Das Dramatische: ohne Strategien zur Regulation dieses Zustandes (sog. coping skills) kommt es leicht zur Verselbstständigung dieses Prozesses. In der Folge dominieren übermäßige negative Selbstkritik, sinkendes Selbstvertrauen und ein merklicher Leistungsabfall das Erleben. Bis man schließlich nur noch Wasser statt Bier trinkt.
Jude Bellingham: Ein Beispiel für mentale Stärke
Am 29. Juni 2024 kurz vor 20 Uhr schleppt sich Jude Bellingham über den Rasen der Gelsenkirchener Arena Auf Schalke, gezeichnet von einer langen und anstrengenden Saison bei Real Madrid und Nationalmannschaftseinsätzen. Jetzt gilt er als einer der wichtigsten Vertreter eines englischen Starensembles, das den Erwartungen in der Vorrunde nicht gerecht und dafür auch persönlich enorm kritisiert wurde. Nun - eine Minute vor Ende der Nachspielzeit – liegt England gegen den Außenseiter Slowakei mit 0:1 in Rückstand, ohne auch nur in einem Spielmoment geglänzt zu haben. Die slowakischen Fans stimmen bereits seit geraumer Zeit Siegesgesänge an. Langer Einwurf von rechts. Kopfballverlängerung. Fallrückzieher Bellingham. 1:1. Bellingham ist gerade 21 Jahre alt geworden – ein fußballerisches aber vor allem ein mentales Ausnahmetalent.

Die Rolle der mentalen Vorbereitung
Die Entwicklung vom unbeschwerten Kindersport zum Hochleistungssport ist neben dem steigenden Anspruch an Athletik und sportartspezifische technische und taktische Fähigkeiten vor allem durch eine Zunahme an äußeren Druckfaktoren geprägt. Alleine das Wissen darum, dass Eltern großen Zeitaufwand und häufig auch Kosten auf sich nehmen, um ihr Kind zu fördern, kann wie Blei auf den Schultern junger Athlet:innen lasten. Lange Zeit ruhte man sich in der Nachwuchsförderung darauf aus, dass sich das mentale Fähigkeitenprofil einfach mit den Anforderungen der Situation mitentwickelte. Jude Bellingham ist sicherlich ein Vertreter einer sehr kleinen Gruppe, die durch ihre Persönlichkeitsstruktur – durch Gene und Sozialisation definiert – bereits in sehr jungem Alter konstruktiv mit enormen Drucksituationen umgehen können. Trotz massiver körperlicher Erschöpfung und außergewöhnlich hohen Erwartungen von einer Vielzahl von Gruppen, gelingt es ihm immer wieder hochfokussiert zu bleiben oder sich immer wieder in den Fokus zurückzuholen – It‘s not over until it‘s over. Bellingham ist ein absoluter Clutch-Player, ein Spieler, der unter steigendem Druck an Qualität zulegt. Realistisch betrachtet ist diese Erscheinung jedoch die große Ausnahme. Viele sportliche Talente scheitern an der mentalen Hürde und tauchen trotz überragender körperlicher und sportartspezifischer Voraussetzungen nie auf der Elitenebene ihrer Sportart auf – neben der Einflussgröße Verletzungspech ist die Fähigkeit, dem steigenden Druck standzuhalten, sogar an ihm zu wachsen ein breiter Türtsteher im Hochleistungssport, der vielen Talenten ein unterkühltes „Du kommst hier nicht rein“ vorhält.
Um diesem Türsteher ein Schnippchen zu schlagen, hat die Sportpsychologie nach Wegen gesucht, wie man Drucksituationen effektiv bewältigen kann, auch wenn man nicht in die Kategorie Simone Biles, Georg Grozer, Karsten Warholm oder Caitlin Clark zählt, denen die Aneignung von Strategien scheinbar leichtfällt.

Praktische Techniken zur Stressbewältigung
Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitstrainings fördern die Fähigkeit, gezielt zu fokussieren und reduzieren Ängstlichkeit und Nervosität. Sie helfen außerdem dabei, frühzeitig zu erkennen, wenn das körperliche und mentale System (beides bedingt sich wechselseitig) aus der Balance gerät und erlauben somit ein frühes Gegensteuern, bspw. 
durch… gelernte Atemtechniken, die gezielt stressreduzierend wirken - zu beobachten ist dies im Biathlon, wenn Sportler:innen in kürzester Zeit aus der körperlichen Maximalbelastung der Laufstrecke in eine zwischenzeitliche Ruhe am Schießstand finden müssen.
durch… gezielte Aufmerksamkeitssteuerung, die Athlet:innen bewusst von einem Stressor abschneiden und diesen durch ein hilfreiches Aufmerksamkeitsziel ersetzen – das Abwenden vom Schiedsrichter nach einer vermeintlichen Fehlentscheidung und das gleichzeitige Zuwenden zur angestrebten Spielposition ist ein solcher Prozess.
durch… ein positives Selbstgespräch, das zum einen dafür sorgt, dass negative Gedanken keinen Platz mehr finden – wer spricht, kann nicht denken - und zudem durch kurze Sätze oder Lieder hilfreiche Gedanken und Emotionen platzieren kann - im Tennis, wo Spieler ganz auf sich alleine gestellt sind, wird dies schon lange als effektive Regulationstechnik angewandt.

Zudem wurden in der Vorbereitung von Drucksituationen verschiedene Strategien entwickelt: 

  • Mentales Vorstellungstraining – Sportlerinnen und Sportler durchleben druckbelastete Momente in ihrer Vorstellung und finden effektive Handlungsmuster, um die Situation konstruktiv zu bewältigen. 
  • Routinenbildung – Sportler:innen entwickeln sinnvolle, stabile Handlungsabläufe für Drucksituationen – leicht erkennbar bei Freiwürfen im Basketball, 7m-Situationen im Handball oder auch bei leichtathletischen Sprungdisziplinen.
  • Stressimulationen im Training oder andere Situationen, in denen sich Sportler:innen bewusst mit Versagensdruck konfrontiert sehen - die Erlebnispädagogik bietet hier gerade für junge Athlet:innen ein spannendes Angebot.

Letztlich steht am Anfang der nächsten Drucksituation vor allem auch der produktive Umgang mit vergangenen belastenden Erlebnissen. Viele junge Athlet:innen sind erleichtert, wenn sie eine als extrem negativ empfundene Stresssituation hinter sich haben und scheuen die notwendige individuelle Konfrontation. Biles, Grozer, Warholm, Clark, auch Bellingham haben früh in ihrer Karriere Erfahrungen mit sehr schmerzhaften Niederlagen gemacht und daraus sinnvolle Strategien entwickelt. Biles zog noch als erfahrene Athletin bei den Olympischen Spielen in Tokyo vor dem Mehrkampffinale zurück, um ihre mentale Gesundheit zu schützen und wird nach einer souveränen Qualifikation in Paris wieder antreten. Dass die Gründe gerade im Fall von Simone Biles komplex sind, muss man nicht diskutieren, dennoch zeigt es wie wichtig es für Athlet:innen ist, über den Moment hinausschauen zu können. Gerade in der intensiven Auseinandersetzung mit sehr belastenden Situationen liegt die große Chance vieler Sportler:innen. Die Bedeutung der Fähigkeit, sich einem negativen Erlebnis sachlich und analytisch zu nähern, um auch im mentalen Bereich Lösungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, wird häufig genauso unterschätz wie die Gefahr von ungelösten Emotionen, die man nur empfunden aber nicht eingeordnet hat. Einordnung und Auseinandersetzung beinhalten auch immer die Möglichkeit dem Erlebten den Schrecken zu nehmen und optimistisch auf kommende Situationen zu blicken: Ich weiß, warum ich mich so gefühlt habe. Ich habe eine Idee, wie ich stabiler durch die nächste Situation komme. Ich probiere meine Idee immer wieder im Training aus, um der nächsten Drucksituation gewachsen zu sein.

Das Konzept des „Growth Mindset”
Hierin liegt dann auch ein elementarer Punkt. Die Psychologin Carol Dweck hat bereits in den 90er Jahren mit der Idee des „Growth Mindset“ ein Modell entwickelt, das eine Grundhaltung für den Umgang mit Druck bilden kann. Egal, ob auf dem Bolzplatz, im Schwimmbecken, im Finallauf der Olympischen Spiele – du kannst nicht alles kontrollieren, du kannst nicht immer gewinnen, aber du kannst an allem wachsen.

Johannes Schmitterer 
Sportpsychologe (MSc), Lehrer an einer Gemeinschaftsschule und großer Tierfreund – unterstützt u.a. die Affenbande und die Red Sparrows

 

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